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Zeitzeugenberichte

Meine Kindheit in Berlin-Lichterfelde

Aufgeschrieben zur Erinnerung an meine Eltern,
die auch in schwerer Zeit zusammenhielten
und uns Kindern eine glückliche Kindheit bescherten
und für meine Familie.

 

Meine Eltern Richard und Johanna Gottschling, geb. Drechsler

Meine Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits stammen aus Schlesien. Und so wäre die Tatsache, dass ich in Oels/Schlesien geboren wurde nicht weiter erstaunlich, wären nicht meine Schwester Annelies (1940) und mein Bruder Werner (1948) in Berlin geboren. Hierher, nach Steglitz-Friedenau, waren meine Eltern 1937 nach ihrer Hochzeit in Oels (1936) gezogen.

Ich lasse zunächst meine Schwester Annelies zu Wort kommen. Sie ist 4 Jahre älter als ich. Ihre Schilderungen lassen die Dramatik dieser Wochen und Monate nur erahnen. Natürlich erlebte ich das alles nicht bewusst mit. Ich bin aber immer wieder erstaunt darüber, wie glücklich meine Mutter auf dem Foto aussieht, das sie und mich als knapp Einjährigen nach der Rückkehr nach Nauen im Märkischen Adler zeigt. Dabei hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon viel „durchgemacht“, wie sie es nannte.

Am 1. Oktober 1945 mussten alle, die Berlin verlassen hatten, wieder in der Stadt sein, wenn sie dort Aufenthaltsrecht haben wollten. Aber wohin ziehen? Das Haus Bornstraße 30 war zwischenzeitlich getroffen worden – wir waren „ausgebombt“ sagte meine Mutter, wenn sie davon berichtete.

So zog meine Mutter mit Annelies und mir in die Wohnung von Papas Mutter und seiner Schwester Frieda in der Gerichtstraße 5 in Lichterfelde. Tante Frieda hatte drei Kinder: Ursel, Horst und Hans-Herbert. Das bedeutete nach deren Rückkehr aus Thüringen Leben zu acht auf engem Raum. Das konnte nur vorübergehend sein. In der Söhtstraße, in der Nähe der Gerichtstraße, fanden wir schließlich in einer Kellerwohnung eine Bleibe.

Als mein Vater nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft wieder zur Familie stieß, gelang es meinen Eltern, eine Wohnung in Lichterfelde im Ortlerweg 40 in Beschlag zu nehmen, eine 2 ½ – Zimmerwohnung, Küche, Bad und ein schöner Balkon. Einen Vermieter gab es noch nicht; die Häuser des ehem. Leibstandartenwegs gehörten dem Deutschen Reich bzw. dem Rechtsnachfolger, der späteren Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, kurz BImA. Aber noch war nichts ordentlich geregelt und jeder musste sich selbst helfen …

Eine Wohnung hatten wir jetzt, aber ohne Fenster und teilweise ohne Türen. Die mussten meine Eltern mühsam aus anderen zerstörten Häusern der Siedlung ausgraben, um die Wohnung wieder bewohnbar zu machen. Nach und nach bauten sie sie auf diese Weise aus. 1948 wurde dort mein Bruder Werner geboren.

So war ich von meiner Geburtsstadt Oels schließlich in Berlin gelandet. Aber ich war und bin kein geborener Berliner und muss mich mit dem in Berlin weit verbreiteten Spruch trösten: „Der wahre Berliner kommt aus Schlesien“. Erst im Ortlerweg setzt meine Erinnerung ein. All die Bombenangriffe, die Zerstörungen und die Strapazen von „Reisen in der chaotischen Kriegszeit und den mühsamen Neuanfang im Ortlerweg habe ich, im Gegensatz zu meiner Schwester Annelies, nicht bewusst erlebt. Ich sei ein ruhiges und unproblematisches Kind gewesen, sagte meine Mutter später.

Wohnung und Leben im Ortlerweg

Der Ortlerweg ist eine kleine Nebenstraße, die, von der Wismarer Straße kommend, parallel zur Goerzallee verläuft und dann in einem Schwenk nach links wieder auf diese stößt. Kopfsteinpflaster, gesäumt von Kugelahornbäumen, so ist er mir in Erinnerung geblieben und so sieht er auch noch heute aus, nur lässt ihn die dichte und teilweise auch höhere Bebauung noch winziger erscheinen. Wenn ich an ihn denke, fällt mir als erstes mein Vater ein, wie er abends um halb sieben von der Arbeit kommend in den Ortlerweg einbiegt: Staubmantel, Hut, Collegetasche unter dem Arm. Ich laufe ihm entgegen. Manchmal hatte er einen Storck-Bonbon für mich in der Tasche. Diese Straße sollte bis 1970 unser Zuhause sein.

Eingang Ortlerweg 40

Noch Jahre später, als ich schon längst nicht mehr dort wohnte, fielen mir der Ortlerweg 40 und unsere Küche ein, wenn ich auf Reisen ans Nachhausekommen dachte.

Gebaut worden war der Ortlerweg 1936/37 für eine Siedlung der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ und hieß daher auch Leibstandartenweg. Es entstanden 26 Doppel- und drei Einzelhäuser mit 206 Wohnungen unterschiedlicher Größe, in der Mehrzahl 2½-Zimmerwohnungen, aber für die höheren Ränge auch größere Wohnungen bzw. Einzelhäuser. Der prominenteste Bewohner war wohl Karl Wolff, Adjutant von Reichsführer SS Heinrich Himmler. Der Errichtung dieser Siedlung ist in dem Buch „Steglitz im Dritten Reich“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin heißt es:

„Die Gartenanlagen wurden abwechslungsreich gestaltet. Neben den schon vorhandenen Gehölzen, die weitgehend in die Gartenanlage integriert wurden, sind neben Laub- und Nadelgehölzen auch Blumenrabatten, Rasen und Wildrasen zur Verwendung gekommen. Im Innenbereich zwischen der Goerzallee und dem Ortlerweg wurden drei große Ballspielflächen, zwei Kompostanlagen und zahlreich Sitz- und Ruheplätze angelegt.“

Annelies vor dem Eckfenster unserer Wohnung (1954?), links unser Balkon mit einem Jasmin-Strauch

Am Ende des Krieges war die Siedlung zu 70% zerstört. Stehen geblieben waren acht Doppelhäuser (darunter auch die Nr. 40) und ein Einzelhaus. Von den zerstörten Häusern waren Ruinen und Trümmerhaufen geblieben. Wir Kinder spielten in den Trümmern und fanden hin und wieder einen Topf oder Besteckteile. Dann legten wir Ziegelsteine zu Wohnungsumrissen und spielten „Vater, Mutter, Kind“. Hinter dem Haus war ein kleiner Sandplatz entstanden, in dem wir nach Herzenslust buddeln und bauen konnten. Vom Eckfenster des Wohnzimmers mit den Doppelfenstern gegen die strenge Kälte der Berliner Winter oder vom Balkon aus konnte meine Mutter jederzeit einen Blick auf uns werfen und uns rufen, wenn es Zeit zum Essen war. Wir – das waren mein Bruder Werner und eine Spielkameradin, Friederike Reich. Ihr Vater war Leiter des Jugendhofs am Ende des Ortlerwegs neben dem Altenheim.

Dieser Jugendhof diente der Resozialisierung straffällig gewordener männlicher Jugendlicher, die hier auch eine handwerkliche Ausbildung erhielten. In der Weihnachtszeit gab es einen „Tag der Offenen Tür“ und man konnte von den Jugendlichen hergestellte Arbeiten kaufen. Für die Unterbringung der Jugendlichen wurden die Baracken einer ehemaligen KZ-Außenstelle genutzt, die nach dem Krieg zunächst vom US-Militär als Internierungslager genutzt worden war. Die Familie Reich hatte einen Hund, den Fiffi, einen Spitz, den ich sehr mochte. Herr Reich fuhr ein Auto, was für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war. Ich glaube, es war ein Ford 12M. Für mich bekam das Auto eine ganz besondere Bedeutung. Eines Tages stürzte ich beim Spielen auf der Straße auf die Kante des Bordsteins. Herr Reich fuhr mich sofort ins Graf-Botho-Schwerin Krankenhaus in Lichterfelde Ost. Hier stellte man einen lebensgefährlichen Nierenriss fest, der zur inneren Verblutung führen konnte.Der Riss war nicht operabel und musste von alleine heilen und wurde ständig gekühlt. Erst nach vielen Tagen auf der Intensivstation war sicher, dass ich es geschafft hatte. Wäre Herr Reich nicht wie durch ein Wunder zur Stelle gewesen und hätte mich ins Krankenhaus gebracht, hätte ich vielleicht nicht überlebt.

Die Gartenanlage, von der weiter oben schon die Rede war, lag zwischen Ortlerweg und Goerzallee. Sie war verwildert und blieb jahrelang ungenutzt – außer von uns Kindern. Nacht- und Königskerzen vermehrten sich ungehindert und boten an Sommerabenden einen wunderschön leuchtenden Anblick. Für uns war es ein Spielparadies. Ein paar Büsche waren über das Gelände verteilt stehen geblieben und boten uns wunderbare Spielmöglichkeiten zum Verstecken Höhlen oder Hütten bauen und zum Cowboy- und Indianer Spielen oder einfach nur zum Herumstromern. Cowboys kannten wir aus den Comic-Heften mit „Hopalong Cassidy“ – er war mein Held.

An der Goerzallee war von einer Haushälfte ein Trümmerberg übriggeblieben, der „kleine Berg“, der im Winter eine winzige Rodelmöglichkeit bot. Am Fuße des kleinen Rodelabhangs verlief ein Trampelpfad, der den Ortlerweg mit der Goerzallee verband, eine beliebte und viel benutzte Abkürzung. Die Nutzer ärgerten sich über die Glätte, die durch das Rodeln entstand und streuten Sand. Wir warfen Schnee drüber und rodelten weiter. So ging das hin und her bis das einsetzende Tauwetter dem ein Ende bereitete. Es gab auch den „großen Berg“, natürlich auch aus Trümmern, aber der war spitz und eignete sich nicht zum Rodeln; man konnte nur ab und zu mal hinaufklettern, aber das war langweilig. Natürlich spielte ich mit den Jungen aus der Nachbarschaft Fußball. Genügend Platz bot das Gelände, zwei Tore oder, wenn wir nicht genügend Spieler waren, auch nur eins, wurden schnell markiert. Im Frühling warteten wir ungeduldig darauf, dass der Schnee schmolz – die Winter in Berlin waren lang – und wir wieder spielen konnten. Wir legten Gräben an, um das Wasser in die inzwischen von den Trümmern geräumten Gruben zu leiten und den Platz trocken zu legen. Ich war der Kleinste der Jungen und außerdem nicht im Fußballverein, so dass ich spielerisch nicht mithalten konnte. Deswegen wurde ich ins Tor gestellt. Das wollte sonst keiner, aber mir gefiel das durchaus und ich entwickelte ganz gute Torwartqualitäten. An der Seitenwand eines Hauses hatte jemand den Umriss eines Tores gemalt. Weil dort auch Hühner gehalten wurden, sprachen wir vom „Hühnerhocken“. Hier übten wir das „Köppen“, also den Kopfball, bis das Geräusch des aufprallenden Balles an der Hauswand den Bewohnern zu viel wurde und wir „Hühnerhockenverbot“ erhielten.

Einen Sommer lang stellte eine Familie in der Waschküche des Hauses eine Tischtennisplatte auf und wir spielten dort mit Begeisterung Rundlauf und auch Matches. Ich war flink und reaktionsschnell und fand Gefallen an dem Spiel. Aber dann wurde die Waschküche für Tischtennis gesperrt; einen Ersatz gab es natürlich nicht. Auf die Idee, in einen Verein zu gehen, z.B. den TuS Lichterfelde, kam ich nicht. Die Zugehörigkeit zu einem Verein war in unserer Familie nicht üblich; die Freizeitgestaltung blieb stets im Rahmen der evangelischen-freikirchlichen Gemeinde in der Gerichtstraße.

In einer der Dachwohnungen des Hauses im Nachbareingang wohnte die Familie Sommer; Herr und Frau Sommer mit Sohn Peter, der „Pitsche“ genannt wurde. Sommers hatten eine kleine Seifenhandlung. Morgens beluden sie zwei Fahrradanhänger mit ihrer Ware aus dem Keller, abends wurde sie wieder – soweit nicht verkauft – ausgeladen und in den Keller getragen. Dann konnten Sommers sich einen Goliath leisten, ein dreirädriges Auto, „Sommers Karre“, wie wir spöttisch sagten – dabei war das für die damalige Zeit eine großartige Errungenschaft. Auch das Auto musste jeden Morgen be- und jeden Abend entladen werden. Manchmal liefen wir hin und waren stolz ein wenig helfen zu können.

Schräg unserem Haus gegenüber befand sich ein Altersheim; vermutlich gehörten die Gebäude, zu dem früheren Garagenhof der Leibstandarte Adolf Hitler. Der Leiter hieß Hampel und verjagte uns immer, wenn wir auf dem Grünstreifen vor dem Gelände des Heims spielten. Er kam dann drohend herausgelaufen und wir riefen „Hampel Pampel“ und rannten weg.

In regelmäßigen Abständen wurde das Heim mit Lebensmitteln, darunter auch Margarine, beliefert. Dazu kam ein Lieferwagen, der auf der Straße parkte und die Ware wurde hineingebracht. Eine Zeit lang gab es kleine Werbegeschenke, wenn man eine Packung Margarine kaufte. Solche Plastikfiguren hatte der Lieferant auch dabei, aber die alten Leute hatten kein Interesse daran. Wenn wir den Lieferwagen kommen sahen, liefen wir hin und der Fahrer schenkte uns einige der Figuren.

Ein beliebter Zeitvertreib war Pokern. Dazu sammelten wir weggeworfene Zigarettenschachteln, vor allem amerikanische von den Soldaten, die diese im PX, dem amerikanischen Armee-Einkaufsmarkt, gekauft hatten. Der PX war für uns eine Art Wunderland, denn dort gab es all die Dinge, die es bei uns (noch) nicht gab, und in das wir natürlich nicht hineinkamen: Eiscreme, Comic-Hefte und Kaugummis; die Erwachsenen träumten von Kaffee oder Zigaretten. Letztere waren nicht nur zum Rauchen, sondern stellten auch ein vorzügliches Zahlungsmittel dar, mit dem man Dinge kaufen konnte, die man sonst nicht bekam. Wir sammelten also Zigarettenschachteln von Camel, Lucky Strike, Marlboro, aber auch deutschen Marken wie Gold Dollar, Mokri, Overstolz oder Zuban, die es längst nicht mehr gibt. Die Vorderseite wurde herausgetrennt und man erhielt so einen Stapel Karten. Jeder Spieler legte nacheinander aus seinem Stapel eine „Karte“ in die Mitte; kam zufällig eine „Karte“ doppelt, konnte der ganze Stapel kassiert werden. Hygienisch war das nicht gerade, aber daran dachten wir nicht.

Zum Einkaufen gingen wir anfangs in einen kleinen Laden in der Appenzeller Straße, „Laden“ ist etwas übertrieben, es war ein Häuschen, in dem z.T. auf dem Fußboden die Ware ausgebreitet war. Der Ladenbesitzer hieß „Grund“, und so sagten wir dann: „Wir gehen zu Grund“, was immer ein bisschen witzig klang. Dann kam in die Wismarer Straße ein richtiger Laden: „Heidel“. Noch mit Theke und loser Ware zum Abfüllen, aber bald zog dort ein Supermarkt ein: Gebrüder Manns. Gibt es natürlich schon lange nicht mehr, genauso wenig wie Butter-Beck, Carisch Kaffee, Reichelt, Kaiser’s, Meyer oder Bolle. Das traurige Sterben der Berliner Supermärkte begann einige Jahre nach der Wende, also nach 1990, aber davor prägten diese Namen die Straßenzüge der Stadt.

Zurück in den Ortlerweg. Meine Mutter ging nicht gerne einkaufen sondern schickte uns Kinder. Der Laden war gar nicht weit – nur bis zum Ende des Ortlerwegs und dann noch ca. 50 Meter nach rechts in der Wismarer Straße. Wir bekamen einen Einkaufszettel mit dem, was zu besorgen war, und da wir uns auch immer eine Kleinigkeit für uns selbst leisten durften, gingen wir auch gerne. Oft konnten wir auch eine gefüllte Rabattkarte mitnehmen. Bei jedem Einkauf gab es Rabattmärkchen, die in eine Karte eingeklebt wurden. Wenn die voll war, konnte man sie einlösen und erhielt dafür 1,50 DM. Ein wundervolles Gefühl, weil es uns wie ein Geschenk vorkam.

Milch konnten wir bei einem Kuhstall im Ruthnerweg kaufen, auch nur ein paar Minuten von uns entfernt. Ich bekam eine Milchkanne und 50 Pfennige und zog dann los. Einmal wollte ich die 50 Pfennige aus irgendeinem Grund nicht in der Hand behalten und legte sie in die Milchkanne; leider vergaß ich, sie vor dem Befüllen herauszunehmen und musste den Weg noch einmal machen. In den Kuhstall führte eine Schräge hinab. Heute ist dort eine Tiefgarage. Aber Milch kauften wir noch lange in der Milchkanne. Am Ostpreußendamm, direkt an meinem Schulweg, gab es ein Milchgeschäft. Im Vorbeigehen konnte ich sehen, wie die Milch aus dem Tank durch eine Hebelbewegung in einen gläsernen Abfüll-Zylinder schoss, was mich immer wieder faszinierte.

Meine Giesensdorfer Grundschule

Die Giesensdorfer Grundschule war Luftlinie nicht weit von unserer Wohnung entfernt, allerdings war der Schulweg ziemlich lang, weil ich den Teltowkanal überqueren musste. Der Kanal war für den Treidelverkehr konzipiert worden und hatte ein steiles Ufer, so dass das Spielen am Kanal verboten war. Er verlief fast vor unserer Haustür und bildet wenige 100m westlich von uns die Grenze zur Stadt Teltow, damals Sowjetzone bzw. DDR, heute Brandenburg. Kein Wunder, dass ich als kleiner Junge keinen Schiffsverkehr von der Eugen-Kleine-Brücke aus beobachten konnte, denn bis 1981 war dieser Abschnitt seitens der DDR gesperrt. Aber ich habe als Junge oft davon geträumt, wenn ich von der Brücke auf den Kanal schaute, einmal mit dem Boot auf dem Kanal unterwegs zu sein.

Ich folge weiter meinem Schulweg. Also den Ortlerweg bis zum Ende, links in die Wismarer Straße über den Kanal, dann weiter, links in den Ostpreußendamm und weiter ca. 1 ½ km bis zur Schule. Im Übergang von der Wismarer Straße in den Ostpreußendamm, direkt am Rand zum Gehweg, gab es eine kleine Bude, in der Frau Proske hinter einer Schreibe saß und für wenige Pfennige Süßigkeiten verkaufte. Auf dem Nachhauseweg war das immer eine große Versuchung, der ich jedoch meistens mangels Geldes widerstehen konnte. Sonntags durften wir uns manchmal ein Eis holen: In einen Schuber mit Stiel wurde zunächst eine Waffel geschoben, dann Vanille-, Erdbeer- und Schokoeis eingefüllt, eine zweite Waffel oben drauf geschoben und dann herausgenommen, so dass man jetzt das Eis genüsslich rundum abschlecken konnte.

Dann führte der Weg entlang des Ostpreußendamms vorbei am Lebensmittelgeschäft Carisch Kaffee und dem schon erwähnten Milchladen weiter zu einem Schreibwarenladen, in dem ich meinen ersten Federhalter mit buntem Griff und ein dazugehöriges Tintenfass kaufte; nebendran der Frisör. Es folgte das evangelische Gemeindehaus, in dem auch Schulgottesdienste stattfanden, und schließlich die Giesensdorfer Grundschule. Es ist ein freundliches Backsteingebäude und befindet sich seit 1877 auf dem Gelände des alten Gutshofes Giesensdorf, der hier vor über 300 Jahren eingerichtet wurde. An die Beseitigung des direkt an der Straße gelegenen Gutshauses 1956 kann ich mich noch erinnern.

Von der großangelegten Nachkriegsreform der Alliierten für ein demokratisches Schulwesen war 1951 noch die 6-jährige Grundschule übriggeblieben, und das hatte erfreulicherweise für mich zur Folge, dass meine Schwester Annelies, die ja vier Jahre älter ist als ich, noch auf diese Schule ging als ich eingeschult wurde. So konnte sie sich in den Pausen um mich kümmern, wenn ichetwas verloren auf dem Schulhof stand.

Oberste Reihe, der 6.von links – das bin ich – in der ersten Klasse, 1950

Die Ernährungslage nach dem Krieg war nicht gut, aber da mein Vater bald wieder bei der AEG arbeiten konnte, hatten wir ein zwar kleines, aber doch regelmäßiges Einkommen und litten keine Not. Dennoch war die Schulspeisung auch für uns eine wichtige Ergänzung unseres Speiseplans. Sie verdankten wir dem US-Präsidenten Hoover. Aufgrund seiner Initiative wurden 1947 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren täglich mit einer Mahlzeit aus Lebensmittelbeständen der Armee versorgt. Die Mahlzeiten kamen in großen Thermokübeln in die Schule und wurden in den Pausen verteilt. Ich erinnere mich dunkel an Haferbrei, den ich aus meinem Kochgeschirr löffelte.

Meine Klassenlehrerin war Frau Mitsching, die bald heiratete und dann Frau Schwarz hieß. Man hatte neue Lehrkräfte einstellen müssen, da die ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus dem Dienst entfernt worden waren. Diese neuen Lehrkräfte mussten sich die notwendigen Kenntnisse nebenbei erwerben, und ich glaube, auch Frau Mitsching gehörte zu ihnen. Sie war jedenfalls sehr streng und nicht sehr zugewandt. Ich litt oft unter unerklärlichen Kopfschmerzen und ging nicht gerne zur Schule. Das änderte sich wenigstens zeitweilig als Frau Schwarz pausieren musste und von Frau Gans vertreten wurde. Sie hatte Verständnis für mich und schimpfte vor allem nicht ständig. Ich bedauerte es sehr als die Zeit der Vertretung vorbei war.

Die „Badeanstalt“ am Teltowkanal

Wir hatten Glück: Gar nicht weit von uns gab es am Teltowkanal ein Freibad, das Sommerbad Lichterfelde, von uns liebevoll „Spucknapf“ genannt. Ich muss mit Annelies hingegangen sein, denn meine Eltern wären nie auf die Idee gekommen, ein Schwimmbad zu besuchen. Die Becken hatten einen Nichtschwimmerteil, der zum Schwimmerbecken hinabfiel. Der Übergang zum Schwimmerbecken wurde nur durch eine Kette markiert. So traute ich mich nach und nach in das etwas tiefere Wasser und lernte schwimmen. Nicht besonders gut (ich bin auch heute noch kein guter Schwimmer), aber immerhin! Ich glaube, da war ich ungefähr 10 Jahre alt.

Die Schloßstraße

Wer neue Kleidung oder neue Schuhe braucht, geht in ein Geschäft oder bestellt sich etwas im Internet. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, war es in den Nachkriegsjahren nicht. Als Kind trug ich Sachen, die aus den Care-Paketen der Amerikaner stammten. Auf Geschmack oder Stil konnte da nicht viel Rücksicht genommen werden. Einmal trug ich eine Hose mit Seitenstreifen, und der Lehrer nannte mich den kleinen General. Es dauerte einige Jahre bis ich mit meiner Mutter die erste eigene neue Hose bei C&A kaufte – natürlich in der Schloßstraße. Das war die bevorzugte Einkaufsmeile des Berliner Südwestens. Hier hatten sich nach 1945 zahlreiche Geschäfte der Bekleidungsbranche niedergelassen, z.B. Leineweber, P&C und Warenhäuser wie Karstadt und Wertheim sowie Schuhgeschäfte.

Nach dem Tragen vieler gebrauchter Schuhe war irgendwann der erste Besuch bei Salamander fällig, einem dieser Schuhgeschäfte. Für einige Zeit wurde die richtige Schuhgröße mit Hilfe von Röntgenaufnahmen(!) ermittelt. Bei Salamander gab es die bei Kindern sehr begehrten Abenteuerhefte von „Lurchi“, dem Salamander. Jedes Abenteuer endete mit Spruch: „Und lange schallt‘s im Walde noch: Der Salamander lebe hoch!“. Außer Salamander gab es noch zwei bekannte Schuhgeschäfte mit mehreren Filialen, die Leiser und Stiller hießen, was Anlass für Witzeleien war: Fragt ein Mann eine Passantin: „Gibt es hier in der Nähe ein Schuhgeschäft?“ Sagt die Frau: „Leiser“! Flüstert der Mann: „Gibt es hier in der Nähe ein Schuhgeschäft?“ Sagt die Frau: „Stiller“! Flüstert der Mann kaum hörbar: „Gibt es hier in der Nähe ein Schuhgeschäft?“ Sagt die Frau: „Ich kann Sie leider nicht verstehen!“ Und geht weiter – Darüber haben wir uns als Kinder köstlich amüsiert.

Wertheim war unser Lieblings–Einkaufsort und für mich lange Zeit der Inbegriff des Warenhauses schlechthin. Immer, wenn ich in späteren Jahren zu Besuch in Berlin war, gehörte ein Bummel durch Wertheim dazu. Leider wurde es 2009 geschlossen und bis auf die denkmalgeschützte Fassade abgerissen. Als ich davon hörte, war ich sehr traurig, denn ich konnte mir die Schloßstraße ohne Wertheim gar nicht vorstellen. Mich faszinierte das quirlige Leben der Schloßstraße mit ihren vielen Menschen und den tollen Autos. Das war Großstadt! Auch die Straßenbahnfahrt mit der „77“ oder der „78“ war schon ein kleines Abenteuer. Die „77“ kam die Goerzallee entlang und bog dann in die Appenzeller Straße ein. Das langgezogene Quietschen der Räder in den Schienen habe ich heute noch im Ohr. Wir konnten es bis zu unserer Wohnung hören, besonders abends, wenn ich im Bett lag. Die „78“ kam von der Lindenstraße und fuhr die Wismarer Straße herunter. Beide Linien nahmen nicht den direkten Weg über den Hindenburgdamm nach Steglitz sondern machten einen großen Umweg, der die Fahrt erheblich verlängerte. Als Kinder freuten wir uns; später war es ärgerlich.

In den Straßenbahnen und auch in den Bussen gab es Schaffner, die die Fahrkarten verkauften. War die Straßenbahn abfahrbereit, zog der Schaffner an einem Lederband, das durch die Bahn unterhalb der Decke gezogen war, und es ertönte eine Glocke. So wusste der Fahrer, dass er weiterfahren konnte. „Noch jemand zugestiegen?“ riefen die Schaffner dann. Um den Hals gehängt hatten sie eine Kasse mit senkrecht gestellten Röhren für die Münzen. Oben wurden die Geldstücke eingefüllt, unten konnte durch Daumendruck das Rückgeld in die Hand fallen. Der Fahrschein wurde von einem Block abgerissen und ausgehändigt. Keine einfache Aufgabe für die Schaffner, wenn das Gedränge groß war.

Ferien bei den Großeltern in Kelheim an der Donau

Für unsere Familie bedeutete Reisen: Bayern – genauer gesagt Kelheim an der Donau. Der Zug mit den Flüchtlingen aus Schlesien war kurz nach dem Krieg durchs Land gefahren und Flüchtlinge wurden verteilt. Meine Großeltern mütterlicherseits mit der Schwester und dem Schwager meiner Mutter und meiner Cousine Christa stiegen in besagtem Kelheim aus und wurden von dem größten Bauern am Ort, Frischeisen, aufgenommen.

Wenn wir zu Besuch waren, schliefen alle in einem Zimmer, z. T. auf Strohsäcken, und mein Großvater im Stall in den Kojen, die für die Stallburschen vorgesehen waren. Meine Mutter und wir Kinder blieben oft sechs Wochen, mein Vater solange er Urlaub hatte. Die Fahrt ging an einem der zahlreichen Fernbushöfe los, ich erinnere mich an den Stuttgarter Platz. Aber so einfach kam man in den 1950er Jahren der Nachkriegszeit nicht aus West-Berlin raus. Auf unserer Fahrt nach Süden mussten wir den Kontrollpunkt Dreilinden auf westlicher Seite und dann den Kontrollpunkt Drewitz passieren. Die DDR wollte nahezu um jeden Preis Fluchten ihrer Bürger verhindern. Das bedeutete zu dieser Zeit für uns: Aussteigen aus dem Bus, die Koffer zur Kontrolle auf ein Band legen, ebenso die Reisedokumente. Die Koffer wurden geöffnet und durchsucht, die Reisepässe verschwanden in einem nicht einsehbaren Raum. Wer mit dem DDR-Regime in Konflikt geraten war, dem drohte hier die Verhaftung. Eine „Verbesserung“ war es schon, als wir nicht mehr aussteigen mussten. Wenn die Vopos (Volkspolizisten) und die Grenzsoldaten in den Bus kamen und die Pässe einsammelten, herrschte immer Totenstille. Weil die Kontrollen so zeitaufwändig waren, bildeten sich lange Staus an der Abfertigung, und jedes Mal war die Erleichterung groß, wenn die Fahrt fortgesetzt werden konnte. Allerdings war die Autobahn in einem schlechten Zustand, aber man durfte sowieso nur mit 100 km/h unterwegs sein, ich glaube Busse noch weniger. Die Brücke über die Elbe war teilweise zerstört. Sie war viele Jahre nur einspurig zu befahren und entsprechend lange dauerte die Fahrt wegen der dadurch entstehenden Wartezeiten. Außerdem war die Saalebrücke Rudolphstein 1945 zerstört worden. Daher wurde der Transit-/Interzonenverkehr, also Reisen zwischen Berlin und Westdeutschland, von der Autobahn-Abfahrt Schleiz kommend auf der kurvenreichen und Höhenunterschiede überwindenden Bundesstraße 2 über Zollgrün, Gefell, Dobareuth und Juchhöh zum Grenzübergang nach Töpen umgeleitet. Juchhöh war bis zum 16. Dezember 1966 Kontrollpunkt. Mit der Fertigstellung der neuen Autobahnbrücke konnte der Verkehr wieder durchgehend über die Autobahn rollen.

Ich verließ Berlin und den Ortlerweg 1971, um eine Stelle als Wissenschaftliche Hilfskraft am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Uni Bonn anzutreten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nachwort

Zu dem Zeitpunkt, als ich diese Zeilen schreibe, wohnen Angelika und ich seit fast 50 Jahren in Langen. In all dieser Zeit haben wir uns nicht nur für unsere Familie mit Dörte, Florian und Frederik engagiert, sondern auch in zahlreichen sozialen Bereichen. Dafür erhielt ich 2002 den „Landesehrenbrief“ des Landes Hessen, Angelika 2005 sogar das Bundesverdienstkreuz. Wir fühlen uns dieser Stadt sehr verbunden, ja, wir können sagen: Sie ist Heimat für uns geworden. Und dennoch: Wenn ich nach Berlin komme, schlägt mein Herz ein wenig schneller und ich fühle: auch das ist meine Heimat! Ich habe die Stadt neu und intensiv kennengelernt und wir freuen uns auf die nächsten Besuche in Berlin.

Mit diesem Ausblick wollte ich meine Erinnerungen schließen. Aber muss ich noch einige Sätze hinzufügen:

Krieg, Bomben, Zerstörungen, Tote prägen die Erinnerungen meiner Schwester an mein erstes Lebensjahr. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird – nicht weit von uns – dieser Alptraum erneut Realität in Europa. Frieden, Freiheit und Demokratie stehen auf dem Spiel.

 

Sie mit allem Ernst zu verteidigen, bleibt unsere Aufgabe.

Frank Gottschling, April 2022

Meine Großmutter Anna Gottschling, geb. Krechlokmit (von links): Wilhelm (Reinhards und Christels Vater), Herbert, Richard (mein Vater) und Frieda mit ihrem Mann Fritz Jirsak
Literatur

Klaus Leutner „Das KZ-Außenlager in Berlin-Lichterfelde“, Metropol Verlag, 2020

Christian Simon „Steglitz Zwischen Idylle und Metropole“, Bebra Verlag GmbH, 2012

Armin A. Woy „Die Siedlung der ‘Leibstandarte SS Adolf Hitler‘ in Lichterfelde“ in „Steglitz im Dritten Reich“, Hrsg. Bezirksamt Steglitz, 1992

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