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Zeitzeugenberichte

Die Bergstraße Nr. 1

Die Wohnhäuser der Bergstraße 1 um 1951

Auf der Fahrt nach Teltow geht es über den Ostpreußendamm¹, an der Giesensdorfer Kirche (links), an der Giesensdorfer Grundschule, sowie dem Giesensdorfer Gemeindehaus (rechts), vorbei.

Nach Passieren der Kreuzung Lindenstraße / Wismarer Straße geht es leicht bergan. Ein Höhenunterschied von etwa vier Metern ist zu überwinden, der jedoch in der Winterzeit bei nasser Fahrbahn rasch zu einer Rutschbahn werden kann, erzählen die Anwohner vom Berg.

Für Alteingesessene ist das der Calenberg², den der Volksmund zum Galenberg und letztlich zum Galgenberg machte. Doch ein Galgen hat hier oben nie gestanden. Eher war auf der Anhöhe eine Mühle geplant, dafür spricht das Hartmann’sche Haus, das einst dort oben gestanden hat; Adressbuch 1880.

Die Hartmann’sche Mühle mit Back- und Wohnhaus stand an der Müller-/Ecke Lindenstraße. Der Bäckermeister Albert Hartmann erwarb die 1868 erbaute Mühle mit dem Grundstück 1869. Seine Nachfahren leben noch heute im Kiez. Doch die alte Bockwindmühle, durch einen Blitzschlag stark beschädigt, wurde 1939 abgerissen.

Wohngebäude an der Bergstraße 1 um 1976
Archiv: Lichterfelde-Süd.de / Heimatverein Steglitz e.V.
Straßenkarte (Auszug) von 1938 – mit der in die Berliner Straße (Ostpreußendamm¹ ) mündet.

Kehren wir auf den Calenberg zum Hartmann’schen Haus in der Nebenstraße zurück. Die Nebenstraße wurde 1883 in Bergstraße umbenannt. Am Ostpreußendamm 106 Ecke Dorstener Straße, dort wo sich heute das Lokal „Birkengarten“ befindet, zweigte einst die Bergstraße von der Berliner Straße¹ ab.

A. Hartmann verkaufte seinen Besitz auf dem Calenberg 1882 an Carl Bratsch, der hier eine Lackfabrik errichtete. 1887 wurde die Firma in Bratsch & Reiche – Lackfabrik umbenannt.

Nach zwei Jahren verließ der Kaufmann Edmund Reiche das Unternehmen. Wirtschaftliche Gründe zwangen 1888 das Unternehmen, die Lackfabrik still zu legen³.

Das Grundstück mit den Gebäuden wurde 1896 an den Kaufmann J. Müller verkauft, der drei Jahre später 1899 verstarb. Die Müller’schen Erben hielten das Anwesen bis 1909 und verkauften es dann an die Stadt Berlin. Im Jahr 1920 erwarb der Bankbeamte K. Herzog das Objekt von der Eigentümerin.

Mit Stilllegung der Lackfabrik wurden die Räumlichkeiten an Kleingewerbetreibende vermietet, die auch hier ihre Wohnung nahmen. Mehr und mehr wurde das Ganze zu einem Wohnobjekt.

In dem Berliner Adressbuch von 1943 sind die Namen des Eigentümers und die der 14 Mieter zu finden. Einer von ihnen waren Karl und Amalie Kollhof, die 1935 in die Bergstraße 1 zogen. Hier bei Tante Amalie fand die vierjährige Ursula Bähr mit ihrer Mutter nach einer mehrtägigen Flucht aus dem Wartegau im Februar 1944 eine vorläufige Bleibe.

Ursula Jaensch-Fischer, seit vielen Jahren verheiratet, ist dem Kiez (Lichterfelde-Süd) bis heute treu geblieben. Ihre Erinnerungen, „Die Kinder vom Berg“ sind hier nachzulesen. Diese haben mich zu weiteren Recherchen und Betrachtungen angeregt.

Es wird von einem größeren Wohnhaus und zwei kleineren mit Nebengelass zur Kohlenlagerung und für die Kleintierhaltung berichtet. Sicher besaßen die Wohnungen allesamt noch Ofenheizung. Das hieß im Winter, den Kachelöfen morgens die Asche entnehmen, dann Papier, Kleinholz und Briketts anheizen. Erst wenn die Briketts durchgebrannt waren, durften alle Klappen geschlossen werden. Und dann gab es da noch die Ofenröhre mit den herrlich duftenden Bratäpfeln. Nicht zu vergessen die sanitären Einrichtungen; die waren nicht die besten, die Klos befanden sich auf dem Hof.

Das leicht abfallende Gelände gegenüber der Bergstraße, die Unterwiese, ist ein Überbleibsel des Teltower Sees, der sich von hier etwa 1,9 km lang und 500 m breit nach Teltow hin erstreckte. Ein beliebter Badesee, der mit dem Bau des Teltowkanals 1900 bis 1906 verloren ging. Bis 1955 wurde auf der Unterwiese noch Torf gestochen.

Die Wohnungsgenossenschaft „Märkische Scholle“ e.G. baute hier in den 60er Jahren die ersten Nachkriegswohnungen. Der morastige Untergrund machte eine aufwendige Pfahlgründung für die Fundamentlegung nötig. Es mussten viele Pfähle tief bis in den festen Untergrund gerammt werden.

Dem Spaziergänger bleibt all das verborgen. Doch wer mit wachem Auge am Ufer des Teltowkanals nach Seehof spaziert, kann noch Reste des Teltower Sees entdecken.

Der Teltower See um 1895 (südwestlich von Giesensdorf)
Archiv: Heimatverein Steglitz e.V.

¹ Der Ostpreußendamm in Lichterfelde beginnt an der Gärtnerstraße und endet an der Stadtgrenze. Vor dem 1. Oktober 1961 war es die Berliner Straße.

² Die Vorsilben Kal, Kalen-, Calen- in dem Wort Calenberg gehen auf das Wort kal in der deutschen Sprache zurück und bedeuten kahl, nackt, unbewaldet. So bedeutete das Wort Calenberg das Gleiche wie kahler Berg, kahler Hügel oder kahle Anhöhe.

³ Im Teltower Kreisblatt vom 14. August 1888 ist einer Anonce zu entnehmen: Wegen Umzug billig zu verkaufen, diverse Maschinen, Gerätschaften, Behälter und eine Tonne Teer. Zu besichtigen bei C. Bratsch, Lackfabrik, Gr.-Lichterfelde, Bergstraße 1 (Kurzfassung).

 

Quellen: Zentrale- und Landesbibliothek, Adressbücher: Lichterfelde 1880 – 1943

Mit freundlicher Genehmigung des Heimatvereins Steglitz

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