Etwa 13,5 Millionen Ausländer aus mehr als 20 Nationen arbeiteten im Zweiten Weltkrieg – Stand 1942 – im Deutschen Reich, davon waren 80 – 90 % Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Historiker sprechen vom „größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei.“ In Berlin mussten im Sommer 1944 etwa 400.000 Ausländer arbeiten. Für sie hatte man ca. 1.000 Barackenlager im Stadtgebiet oder in der Umgebung errichtet. Außerdem gab es Sammellager, z.B. in Schulen, Festsälen, Sport- und Fabrikhallen. Die Zwangsarbeiter waren nicht nur in Fabriken für die Kriegsproduktion tätig, sondern sie wurden in der gesamten Wirtschaft, auch in der Landwirtschaft, in Handwerksbetrieben und in privaten Haushalten eingesetzt.
Zumindest vom Jahre 1942 an war die Fortführung des Krieges undenkbar ohne ihre Arbeitsleistung, denn alle arbeitsfähigen
deutschen Männer befanden sich an der Front, sofern sie nicht in ihren Berufen unabkömmlich waren.
Der Begriff „Zwangsarbeit“ ist inhaltlich nicht klar umrissen, doch es lassen sich mehrere Gruppen von Zwangsarbeitern bilden, die sich durch ihre Herkunft und durch die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Lagern unterschieden:
- Ausländische Zivilarbeiter, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges im Ausland freiwillig angeworben worden waren. Diese wurden dann zu Zwangsarbeitern, wenn sie nach Ablauf ihrer Verträge infolge der Kriegsverhältnisse nicht in ihre Heimatländer zurückkehren durften, sondern kurzerhand „dienstverpflichtet“ wurden.
- Deutsche Juden und „Zigeuner“
- Kriegsgefangene
- Häftlinge, d.h. Häftlinge in Konzentrationslagern (KZ), Arbeitserziehungslagerhäftlinge und Justizhäftlinge.
Das Gros der Häftlingszwangsarbeiter stellten die KZ-Häftlinge. In der Wismarer Straße in Lichterfelde-Süd gab es z.B. ein Außenlager des KZ Sachsenhausen, über das mehrfach berichtet wurde.
Gar nicht weit von diesem Lager, auch in Lichterfelde-Süd, an der Berliner Stadtgrenze zu Teltow, befand sich ein anderes Lager, dessen Existenz zwar bekannt ist, aber über seine Geschichte ist bisher nichts veröffentlicht worden. Aus Akten des Landesarchivs Berlin geht hervor, dass dieses Lager ausschließlich der zuerst genannten Kategorie zuzuordnen ist, es befanden sich also zu keinem Zeitpunkt Juden, Häftlinge oder Kriegsgefangene darin. Das Grundstück (8420 Quadratmeter, 170 m lang, 55 m breit) lag in der damaligen Berliner Straße Nr. 100 (seit 1961 Ostpreußendamm). Heute stehen dort Häuser der „Märkischen Scholle Wohnungsunternehmen e.G.“, die Mitte der sechziger Jahre gebaut worden waren.
Damals gehörte das Grundstück der Ingenieurfirma Havestadt & Contag in Berlin- Wilmersdorf und diese Namen – Christian Havestadt und Max Contag – sind heimatkundlichen Lesern vielleicht nicht unbekannt, denn beide gelten als die Architekten des Teltowkanals! Die Firma Havestadt & Contag verpachtete das Grundstück für jährlich 4.000 Reichsmark an das Wasserstraßenneubauamt Berlin-Teltowkanal. Nachdem dieses Amt zum 29.02.1944 aufgelöst wurde, verkaufte der Mit-Firmeninhaber Dr. Ing. Christian Havestadt schließlich das Grundstück an die Stadt Berlin.
Vom April – Juli 1939 errichtete das Wasserstraßenneubauamt Teltowkanal (künftig nur: das Amt) mit Sitz in Berlin-Lankwitz, Siemensstraße 60, das hier zu beschreibende Lager; es war das einzige für alle Bauarbeiter der Reichswasserstraßenverwaltung in Berlin. Ursprünglich sollte es nur mit Arbeitern für den eigenen Tätigkeitsbereich belegt werden, d.h. vor allem für den Ausbau der Schleuse Kleinmachnow. Für die Durchführung dieser Arbeiten wurden zunächst sudetendeutsche und tschechische Arbeiter im Lager untergebracht. Die Belegschaftsstärke betrug Anfang August 1939 nur 170 Mann. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ging sie im Oktober 1939, infolge Einschränkung bzw. Beendigung von Bauarbeiten, sogar noch weiter zurück.
Einerseits um das Lager überhaupt in Betrieb halten zu können, andererseits um einer Übernahme durch andere Stellen vorzubeugen, wurden vom November 1939 an Plätze für fremde Rüstungsbetriebe vermietet. Die Zahl der wasserstraßen-gebundenen Arbeiter ging im Winter 1939/40 bis auf etwa 40 herunter. Noch im Juni 1942 betonte das Amt, die Unterbringung von Arbeitern aus anderen Bereichen sei nur eine ?kriegsbedingte Notlösung?, doch faktisch waren im Lager zumindest von 1941 bis 1943 überwiegend Zwangsarbeiter aus anderen Betrieben – die wichtigsten werden später genannt – untergebracht. Das Amt trat also für die Mehrzahl der Lagerbelegschaft nicht als Arbeitgeber sondern nur als Hausherr auf. Die Belegung mit Zwangsarbeitern aus mehreren Betrieben kennzeichnet das Lager somit als Gemeinschaftslager. Die gewerblichen, ausländischen Arbeiter wurden grundsätzlich in solchen Lagern untergebracht und es war vorgesehen, aber in der Praxis nur selten durchführbar, dass die Angehörigen der einzelnen Nationalitäten in getrennten Baracken wohnen sollten.
Aus überlieferten Namenslisten des Gemeinschaftslagers Teltowkanal geht hervor, dass folgende Nationalitäten vertreten waren: Belgier, Bulgaren, Dänen, Franzosen, Italiener, Niederländer, Norweger, Polen, Slowaken und Tschechen (hier wurde bewusst die alphabetische Reihung gewählt, weil die Anzahl der zu diesen Nationen gehörenden Arbeiter nicht bekannt ist; sie dürfte auch ständig gewechselt haben).
Eine andere, wesentlich größere Behörde als das Amt – der „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt“ – beaufsichtigte im November 1941 in Berlin nicht weniger als 43 Gemeinschaftslager! Eins davon lag auch in Lichterfelde-Süd, Osdorfer Straße (ohne Hausnummer, wahrscheinlich zwischen Woltmannweg und Lichterfelder Ring). Im Lager Teltowkanal wohnten die Zwangsarbeiter in drei Holzbaracken mit jeweils fünf Stuben; in jeder Stube standen 20 Doppelstockbetten; über die sonstige Ausstattung der Zimmer mit Schränken, Tischen und Stühlen sagen die Akten nichts aus. Außerdem gehörten zum Lager (siehe Skizze):
- eine Wirtschaftsbaracke mit Speisesaal (an dessen Stirnseite sich eine Bühne befand), Küche sowie Neben- und Vorratsräume,
- eine Verwaltungs- oder Führerbaracke,
- eine Baracke mit Waschgelegenheiten und Duschen,
- zwei Aborte,
- ein Kesselhaus,
- ein Fahrradschuppen,
- ein Schweine- bzw. Schafstall mit Auslauf,
- ein Kohlebunker.
Das Lager war für eine Sollstärke von 300 Mann ausgerichtet, seine Bewohner wurden „Arbeitskameraden“(!) genannt. Als durchschnittliche Belegschaftsstärke kann anhand überlieferter täglicher Stärkemeldungen, zumindest für den Zeitraum vom September 1940 bis März 1943, eine Zahl zwischen 230 und 250 Mann angenommen werden. Für den Betrieb und die Unterhaltung des Lagers waren vier Frauen und elf Männer als Lagerpersonal zuständig. Dazu gehörten neben dem Lagerführer und einem Dolmetscher ein Koch, eine Köchin, Schälfrauen, Barackenwärter, Sanitäter, Geräteverwalter, Heizer und Nachtwächter.
Mit Wirkung vom 01.01.1940 wurde das gesamte Lagerpersonal einschließlich der Küchenbewirtschaftung vom Sozialamt bzw. von der Vermögensverwaltung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) übernommen; in den überlieferten, archivalischen Quellen wird es von da an auch als „DAF-Gemeinschaftslager“ bezeichnet. Darüber hinaus war die DAF generell zuständig für die „Betreuung“ aller im Reichsgebiet eingesetzten, ausländischen Arbeitskräfte; ausgenommen waren die in der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte, die vom Reichsnährstand“ betreut“ wurden, wobei die Betreuung wohl effektiv mehr eine Überwachung war.
Das Wasserstraßenneubauamt blieb aber für den Betrieb des Lagers Teltowkanal sowie für die Verhandlungen und Abrechnungen mit den Firmen zuständig, die das Lager für die Unterbringung ihrer Rüstungsarbeiter nutzten. Von diesen insgesamt 13 Unternehmen – darunter als einziges auch ein staatliches Amt – sollen hier nur solche Betriebe genannt werden, die über einen längeren Zeitraum zwischen 20 und 70 Arbeiter im Lager untergebracht hatten:
- C. Lorenz AG, Berlin-Tempelhof
- Zeiss Ikon AG Goerzwerk, Berlin-Zehlendorf
- Daimler-Benz Motoren GmbH, Genshagen bei Berlin (Tochterfirma der Daimler-Benz AG, Stuttgart)
- Elektro-Mechanik Heinrich List, Teltow
- Askania-Werke AG, Berlin, mit drei Standorten: Friedenau, Steglitz und Mariendorf
- Kreiselgeräte GmbH, Berlin-Zehlendorf
- Sendlinger Optische Glaswerke GmbH, Zehlendorf
- Luftnachrichten Zeugamt, Teltow
Diese Unternehmen stellten feinmechanische und optische Instrumente sowie Telefon-, Telegrafen-, Foto-, Kino- und Rundfunkapparate her. Sie betrieben in der Regel außerdem auch andere Lager, zum Teil auf dem eigenen Firmengelände. Jede Firma hatte pro Kopf und Tag 1,20 RM Unterkunftsgeld an das Amt zu zahlen. Je nach Aufenthaltsdauer der Zwangsarbeiter im Gemeinschaftslager – sie lag bei durchschnittlich 28 Tagen – hatten die Unternehmen sehr unterschiedliche Beträge zu zahlen: Während die Firma Sendlinger z. B. im Sept. 1940 5362,80 RM überweisen musste, hatte eine andere Firma für einen Monat einmal nur 2,40 RM zu zahlen; dies sind jedenfalls die aus den Akten ermittelten Höchst- und Mindestbeträge.
Über die Lebensbedingungen im Lager sind in den nur bruchstückhaft überlieferten Akten widersprüchliche Fakten ermittelt worden: Einerseits geht aus einem Inventarverzeichnis hervor, dass 77 Bücher, ein Rundfunkgerät und sogar ein Konzertflügel vorhanden waren, andererseits muss die Verpflegung wohl schlecht gewesen sein, denn bereits im November 1939 führte dies zur „Meuterei und Arbeitsverweigerung“ bei tschechischen Arbeitern. Auch über Ungeziefer (Ratten und Wanzen) wurde geklagt. Weil das Lager wegen Koksmangels nicht beheizt werden konnte, musste es zwischen Mitte Februar und Ende März 1940 stillgelegt und die Bewohner in Notquartieren anderweitig untergebracht werden.
In der Nacht vom 17./18. Januar 1943 wurde das Lager durch Fliegerbomben schwer beschädigt. Die enorme Druckwelle drückte die Seitenwände der Baracken heraus und viele Türen und Fenster gingen zu Bruch. Daraufhin wurde das Lager von Mitarbeitern der bereits erwähnten Dienststelle des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ wieder instand gesetzt.
Die eingangs erwähnte Auflösung des Wasserstraßenneubauamtes Berlin-Teltowkanal und der dann erfolgte Verkauf des Lagergeländes sind die einzigen bisher bekannten Fakten aus dem Jahre 1944, d.h., es ist nicht geklärt, ob das Lager ebenfalls aufgelöst oder von einer anderen Stelle weiter betrieben wurde.
Mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Roeske (Autor); 2023
Quellen:
- Landesarchiv Berlin, Aktenbestand A Rep. 027-03 Wasserstraßenneubauamt Berlin-Teltowkanal.
- Kubatzki, Rainer, Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager. Standorte und Topographie in Berlin und im brandenburgischen Umland 1939-1945. Eine Dokumentation, Berlin 2001.
- Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart 2001.
- Zwangsarbeit in Berlin 1938-1945, herausgegeben vom Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Redaktion: Helmut Bräutigam, Doris Fürstenberg, Bernt Roder, Berlin 2003.
- Heusler, Andreas; Spoerer, Mark; Trischler, Helmut, Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im ?Dritten Reich?, München 2010.